« Filmkritik: "The Town" | Zurück zur Startseite dieses Blogs | "24" und wie es die Welt sah »

Joaquin Phoenix ist wieder da

Am 11. Februar 2009, wenige Wochen vor der Oscar-Verleihung, hatte der amerikanische Talkmaster David Letterman den Schauspieler Joaquin Phoenix zu Gast. Phoenix war einem größeren Publikum bekannt geworden als römischer Kaiser Commodus in Ridley Scotts Sandalenfilm "Gladiator", die Rolle brachte ihm eine Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller ein. 2005 bekam er für seine Rolle als Johnny Cash in "Walk the Line" seine zweite Oscar-Nominierung, diesmal als bester Hauptdarsteller.

Wenn Letterman gewusst hätte, was an diesem Abend auf ihn zukam, hätte er Joaquin Phoenix wohl nicht eingeladen. Denn anstatt eines gutaussehenden, intelligenten Schauspielers erschien ein Freak mit zotteligem Vollbart, langen, verfilzten Haaren und Sonnenbrille, der nicht nur unablässig Kaugummi kaute (und es schließlich sogar an Lettermans Schreibtisch klebte), sondern ganz offensichtlich unter Drogeneinfluss stand. Entsprechend mühsam gestaltete sich das Interview: Phoenix wirkte nervös, war einsilbig, antwortete immer wieder nur mit "I don't know" und machte dem Talkmaster so das Leben schwer. Der amüsierte sich zum einen, wurde jedoch im Verlauf des Gesprächs auch immer sarkastischer. Hier das vollständige Interview:

Dieser bizarre Auftritt erregte in den USA großes Aufsehen. Am 7. März 2010 verteilte die Academy of Motion Picture Arts and Sciences zum 81. Mal die Oscar-Statuen. Während dieser Veranstaltung parodierte Ben Stiller zur großen Freude des Publikums den neuen, haarigen Joaquin Phoenix:

Am 10. September dieses Jahres kam dann in den USA der Dokumentarfilm "I'm still here" in die Kinos. Regisseur Casey Affleck (der jüngere Bruder von Ben) zeigt darin die Entwicklung von Joaquin Phoenix von einem erfolgreichen Schauspieler zu einem Drogen- und Alkoholwrack. Geplagt von Selbstzweifeln, beschließt Phoenix, die Schauspielerei an den Nagel zu hängen. Am Schluss des Films beginnt er eine neue Karriere als Rapper.

Dieses neue Bild von Joaquin Phoenix wirkte umso glaubwürdiger, da sein älterer Bruder River, ebenfalls Schauspieler (er spielte zum Beispiel den jungen Indiana Jones in "Indiana Jones und der letzte Kreuzzug"), einige Jahre zuvor an einer Überdosis Heroin gestorben war, und zwar tatsächlich in den Armen von Joaquin. Keiner wollte es laut aussprechen, doch jeder hatte es im Hinterkopf: Joaquin schien sich in die gleiche Richtug zu entwickeln wie sein Bruder. Hier der englische Trailer zu "I'm still here":

Doch von Anfang an kam einigen Filmkritikern die Dokumentation etwas zu perfekt vor. Affleck hatte einfach zu viele eindrucksvollle Nahaufnahmen von Phoenix eingefangen, etwa wie er sich mitten auf der Straße übergab oder plötzlich ohne Grund ausflippte. Andere Kritiker hingegen sahen die Film als überzeugendes Dokument eines psychischen Zusammenbruchs.

Am Wochenende nach dem Filmstart erklärte dann Casey Affleck in einem Interview, der ganze Film sei ein Fake. "I'm still here" zeige die fiktive Geschichte eines Schauspielers, der eine psychische Krise durchleide. Joaquin Phoenix aber gehe es gut.

Es stellte sich heraus, dass Ben Stiller und Natalie Portman in die Geschichte eingeweiht waren, genauso wie die Familie und einige der engsten Freunde von Phoenix. Doch in der Öffentlichkeit spielte Phoenix über Monate hinweg den alkohol- und drogenkranken Ex-Schauspieler, der die Orientierung verloren hatte. Dass dies nur eine Rolle war, wusste David Letterman nicht. Der Auftriff von Joaquin Phoenix in der Show war reine Schauspielkunst. Fünf Minuten aus diesem denkwürdigen Interview fanden daher auch den Weg in "I'm still here". Als schließlich vor einigen Tagen die Wahrheit bekannt wurde, lud Letterman Joaquin Phoenix erneut in seine Show ein. Diesmal, am 22. September, erschien der Schauspieler wieder wie man ihn kannte, nüchtern, rasiert und mit kurzen Haaren:

Einige Filmkritiker, darunter der einflussreiche Roger Ebert, fordern mittlerweile einen Oscar für Phoenix. "I'm still here" dagegen wird allgemein nur als ein eher mittelmäßiger Film eingestuft.

Geschrieben am Sonntag 26 September 2010 um 18:05 von Roland Freist

Bearbeitet: Montag 02 Dezember 2013 16:48

*
blog comments powered by Disqus

« Filmkritik: "The Town" | Zurück nach oben | "24" und wie es die Welt sah »

Impressum/Kontakt