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Filmkritik: "Anonymus"

Sein oder nicht sein?

Die Frage, ob William Shakespeare die unter seinem Namen veröffentlichten Stücke und Gedichte tatsächlich selbst geschrieben hat, geistert bereits seit Jahrzehnten durch die Universitätsbibliotheken. Diese Diskussionen zu einem populären Spielfilm zu verarbeiten, erscheint trotzdem gewagt. Denn obwohl die Mehrheit der Leser und Theaterbesucher vermutlich von dem teilweise erbittert geführten Streit zwischen den verschiedenen Schulen gehört hat, die sich in der literarischen Welt dazu gebildet haben, dürften sie für die Frage nach dem wahren Urheber der Texte bestenfalls das gleiche Interesse aufbringen wie für eine Quizfrage bei "Wer wird Millionär?". Roland Emmerich hat das vermutlich geahnt und benutzt daher in "Anonymus" die Wer-war-Shakespeare-Diskussion lediglich als Aufhänger, um eine wesentlich größere Geschichte von Politik, Macht, Reichtum, Intrigen und Liebe zu erzählen.

Zu Zeiten Shakespeares wird England regiert von Queen Elizabeth I (Vanessa Redgrave). In Rückblicken erfährt man, dass sie ein Verhältnis hatte mit dem deutlich jüngeren Edward de Vere, Earl of Oxford (Rhys Ifans), dem Spross einer der ältesten und reichsten Familien des Landes. Als sie schwanger wurde, gab sie das Kind auf Betreiben ihrer Ratgeber zu einer – immerhin adeligen – Pflegefamilie, wo der Junge zum Earl of Southampton heranwuchs. Edward vergrub sich in der Folge in seinem Schloss und kümmerte sich nur noch um seine literarischen Arbeiten, seinen Besitz ließ er verfallen.

In der Gegenwart: Um seine Stücke auf die Bühne zu bringen, bedient sich Edward eines Strohmanns, eines korrupten, eher mäßig begabten Schauspielers namens William Shakespeare (Rafe Spall), der keinen einzigen Buchstaben schreiben kann. Der Erfolg seiner Werke, die Erfahrung, dass er mit seinen geschriebenen Worten Tausende von Menschen begeistern und von seinen Ideen überzeugen kann, veranlasst Edward dazu, sich mit einzelnen Stücken immer stärker in die Politik einzumischen. Als der Machtkampf um die Nachfolge von Elizabeth, die offiziell kinderlos geblieben ist, entbrennt, macht er mit "Richard III" Stimmung gegen Robert Cecil, den engsten Berater der Königin, der den Schotten James auf den Thron hieven will. Es kommt zu einem Volksaufstand, der in der Folge zur Enthüllung der wahren Hintergründe des Dramas führt.

Das hört sich alles recht kompliziert an, und das ist es auch. Bis Emmerich alle Figuren vorgestellt und eingeordnet hat, ist schon einmal die erste halbe Stunde vorbei. Erst danach beginnt die Handlung allmählich Fahrt aufzunehmen. Sobald der Film jedoch erst einmal richtig in der Spur ist, entwickelt er sogar Spannung, die sich in einem sorgfältig inszenierten, emotionalen Schluss entlädt.

Bis es soweit ist, lebt "Anonymus" vor allem von der Ausstattung: Die prächtigen, farbenfrohen Kostüme der Adeligen, die mit ungeheurer Detailfreude gezeichneten Wohn- und Arbeitsräume, Shakespeares berühmtes, rundes Theater – bereits diese Bilder machen mächtig Spaß. Dazu kommen die computergenerierten Ansichten des alten London, darunter am eindrucksvollsten die Szenen auf der London Bridge und von Elizabeths Begräbnis – ein langer Trauerzug, aufgenommen aus der Vogelperspektive, der bei leichtem Schneefall auf der zugefrorenen Themse einem einfachen Pferdegespann mit dem Sarg hinterher zieht. Roland Emmerich hat Spiegel Online erzählt, der Film habe lediglich 26 Millionen Dollar plus Mehrwertsteuer gekostet. Gut angelegtes Geld.

"Anonymus" hat ein paar Schwächen – er hat einige Längen, und einige der Nebenfiguren bekommen mehr Aufmerksamkeit als durch ihre Bedeutung für die Story gerechtfertigt ist. Trotzdem ist es ein guter Film geworden. Obwohl mit einem vergleichsweise bescheidenen Budget gedreht, ist "Anonymus" weit mehr "großes Kino" als die Science-Fiction-Filme, mit denen Emmerich bekannt wurde.

"Anonymus" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Geschrieben am Freitag 11 November 2011 um 17:30 von Roland Freist

Bearbeitet: Samstag 12 Januar 2013 16:16

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