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Filmkritik: "Only Lovers Left Alive"

Vampire unter sich

Wie muss es sich wohl anfühlen, wenn man Jahrhunderte alt ist? Was wird aus einem Menschen, der sich bereits mit Shakespeare unterhielt, mit Schubert musizierte und Eddie Cochran auf der Bühne sah? Wie würde er leben, wie würde er sich ausdrücken? Wäre er ein fröhlicher Mensch, mit wem würde er heute verkehren?

Das sind Fragen, wie sie sich Jim Jarmusch in seinem neuen Film stellt. Es geht um zwei Vampire, die wohl nicht ganz zufällig Adam (Tom Hiddleston, der Loki aus "Thor") und Eve (Tilda Swinton) heißen. Sie sind ein Liebespaar, vermutlich bereits seit Jahrhunderten, doch sie leben weit voneinander entfernt. Adam hat ein heruntergekommenes Haus in einem der aufgegebenen Außenbezirke von Detroit bezogen, wo er sich ein professionelles Aufnahmestudio eingerichtet hat. Er ist Musiker und Sammler alter E-Gitarren, zieht es jedoch vor, seine Werke nicht mehr zu veröffentlichen. Eve wohnt in einem kleinen Apartment in der Altstadt von Tanger in Marokko, zusammen mit Hunderten alter Bücher. Sie halten per Videotelefonie Kontakt miteinander, Eve mit ihrem iPhone, Adam mit einer selbstgebastelten Kombination aus Festnetztelefon und altem Röhrenfernseher. Sie verbringt ihre Nächte in einer kleinen Bar, wo sie Christopher Marlowe (John Hurt) trifft, den genialischen Dichter aus dem 16. Jahrhundert. Eine Verschwörungstheorie behauptet, er habe die Werke von William Shakespeare geschrieben, was er im Film mit dem schönen Satz "Ich wünschte, ich hätte diesen Kerl getroffen, bevor ich Hamlet geschieben habe" bestätigt. Adam dagegen hat lediglich mit Ian (Anton Yelchin, der Chekov in "Star Trek") Kontakt, einem langhaarigen Fan seiner Musik, der ihm alles besorgt, was er zum Leben benötigt.

Bei einem ihrer Telefongespräche erwacht erneut die Sehnsucht in ihnen, und Eve kommt Adam in Detroit besuchen. Sie bleiben für sich, reden über alte Zeiten, tauschen Erinnerungen an Menschen aus, denen sie begegnet sind, an Lord Byron oder Mary Shelley. Sie tragen Kleidungsstücke, die sie teilweise bereits seit Jahrhunderten besitzen, und Eve neckt Adam damit. Beide schlafen lange, man merkt ihnen an, dass sie alt sind und ihre Kräfte schwinden. Blut nehmen sie nur noch wenig zu sich, am liebsten Null negativ, "das gute Zeug", wie Eve es nennt, das Adam im Krankenhaus bei einem korrupten Arzt kauft.

Es liegt eine unglaubliche Melancholie über diesen Szenen. Die Vampire, ohnehin allergisch gegen Tageslicht, bevorzugen schummrige Beleuchtung. Steigt die Wattzahl, setzen sie sofort ihre Sonnenbrillen auf. Adam ist leicht depressiv, die meiste Zeit sitzen oder liegen Eve und er in seinem Wohnzimmer, hören Musik und tauschen ab und zu ein paar Sätze aus. Es geschieht so gut wie nichts, sie lassen einfach nur die Zeit vergehen. Doch eines Tages taucht Eves Schwester Ava (Mia Wasikowska, "Alice im Wunderland") auf, sie ist jünger und leicht punkig, und zerstört das schwermütige Idyll.

Der Film lebt von der Stimmung seiner Bilder, den Blicken in die zerfallenden Behausungen der beiden Protagonisten, vollgestopft mit Erinnerungsstücken an zwei Leben, die bereits viel zu lange dauern. Adam spielt mit dem Gedanken, seine Existenz zu beenden, und lässt sich eine Revolverkugel aus Hartholz anfertigen. Eve und er sind hochgebildet, wissen von jeder Pflanze und jedem Tier den lateinischen Namen, haben unendlich viel gelesen und gelernt. Doch wenn sie nicht auffallen und die Aufmerksamkeit der Menschen erregen wollen, können sie ihr Wissen nur untereinander teilen. Sie sind Freaks mit dem Aussehen und dem Weltschmerz einer Gothic-Rock-Gruppe und haben die Menschheit schon lange aufgegeben.

Wie gesagt, es geschieht nicht viel in den 123 Minuten dieses Films. Man kann noch nicht einmal von einer Liebesgeschichte sprechen, da man weder erfährt, wie, wann und warum Adam und Eve zusammengefunden haben, noch warum sie so weit voneinander entfernt wohnten. "Only Lovers Left Alive" ist ein Stimmungsbild und zeigt zwei, nun ja, Lebewesen, die von der Menschheit so enttäuscht sind, dass sie sich so weit wie möglich von ihr zurückgezogen haben. Mehr nicht. Doch wer sich auf die verträumten und düsteren Bilder einlässt, lernt hier eine ganz neue Interpretation des alten Vampir-Mythos kennen.

"Only Lovers Left Alive" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Geschrieben am Donnerstag 02 Januar 2014 um 22:42 von Roland Freist

Bearbeitet: Freitag 03 Januar 2014 11:49

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