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Filmkritik: "The Jungle Book"

Keine Spur von Gemütlichkeit

Einen der beliebtesten Zeichentrickfilme aller Zeiten als Realfilm neu in die Kinos zu bringen, grenzt an ein Sakrileg und ist zugleich ein hohes Risiko. Denn die Zuschauer werden die neue Fassung des "Dschungelbuch" ohne Zweifel an dem geliebten Vorgänger messen, den sie selber entweder in ihrer Kindheit im Kino oder später im Fernsehen gesehen haben. Haben sie selbst Kinder, mit denen sie ihn sich ansehen, werden sie umso kritischer hinschauen, ob er genau so fröhlich und unterhaltsam ist, wie sie ihn in Erinnerung behalten haben. Und falls nicht, dann sind sie umso mehr enttäuscht.

Doch Regisseur Jon Favreau ("Iron Man") hat alles richtig gemacht. Denn "The Jungle Book" ist ein guter Film geworden, ein sehr guter sogar, und das hat viel damit zu tun, dass Favreau den Vorgänger zwar an einigen Stellen zitiert, aber insgesamt einen komplett neuen Film gedreht hat.

Das 2016er "Jungle Book" ist der literarischen Vorlage von Rudyard Kipling näher als der Disney-Streifen aus den 60er Jahren. Der Film ist düsterer und auch gewalttätiger als der Vorgänger und natürlich auch realistischer als die gezeichnete Version. Mowgli, gespielt von dem heute zwölfjährigen Neel Sethi, wurde von dem Panther Baghira (gesprochen von Ben Kingsley/Joachim Król) als kleines Kind im Dschungel gefunden und zu einem Wolfsrudel gebracht, wo er von Akela (Giancarlo Esposito/Justus von Dohnányi) und Raksha (Lupita Nyong’o/Heike Makatsch) aufgezogen wurde. Doch eines Tages taucht der mächtige Tiger Shir Khan (Idris Elba/Ben Becker) auf, der Mowglis Vater getötet hat, dabei jedoch ein Auge verlor, und seither von Hass gegen die Menschen erfüllt ist. Er will nun auch Mowgli umbringen, dessen einzige Rettung eine menschliche Siedlung in der Nähe ist. Auf dem Weg dorthin wird er von Baghira und dem Bären Balu (Bill Murray/Armin Rohde) begleitet.

Von Anfang an fällt auf, dass Mowgli hier tatsächlich aussieht wie ein Junge, der sein Leben in einem Urwald verbringt. Er ist schmutzig, er hat verfilzte Haare, mehrere Narben und ständig Schrammen und offene Kratzer am ganzen Körper. Die Tiere sind mit einem unglaublichen Realismus gezeichnet. Jedes Zucken der Augen, jede Bewegung von Ohren, Schwanz, Pfoten, jedes Zusammenziehen der Muskeln in einer Lauerstellung sind der Natur eins zu eins abgeschaut, in einer Perfektion, wie man sie selten zuvor gesehen hat. Dass der Film dennoch der Albtraum jedes Biologielehrers ist und Tiere zusammenbringt, die sich in der Natur noch nie begegnet sind, tut seiner Überzeugungskraft keinen Abbruch. Wenn die Protagonisten des "Jungle Book" aufeinander losgehen, erkennt man kaum noch einen Unterschied zu einer Tierdoku. Vielleicht hat das eine schärfere FSK-Einstufung verhindert. Der Film ist in Deutschland ab sechs Jahren freigegeben, für einige Einstellungen wäre aber eine Einstufung ab zwölf Jahren eher angemessen. Das kleine Mädchen neben mir wurde jedenfalls von einigen Szenen regelrecht in seinen Sitz gepresst.

Die Musik ist in "The Jungle Book" nur noch eine Reminiszenz an den Zeichentrickfilm. Das berühmte "Versuch’s mal mit Gemütlichkeit" singen Balu und Mowgli gemeinsam wie ein altes Volkslied, und der Affenkönig King Louie (Christopher Walken/Christian Berkel), eine Gestalt wie eine Mischung aus Colonel Kurtz und Jabba the Hutt, rezitiert seinen Song wie ein Gedicht. Auch der Humor wurde im Vergleich zum Vorgänger zurückgenommen. Balu, der hier als sympathischer, wenn auch fauler Taugenichts charakterisiert wird, hat einige witzige Szenen, doch richtig zum laut Herauslachen reizen auch sie nicht. "The Jungle Book" ist im Wesentlichen ein Abenteuerfilm, in dem es an einigen Stellen regelrecht um Leben und Tod geht. Zum Schluss baut Favreau gekonnt die Spannung auf und zieht dabei alle Hollywood-Register, bis es dann zum letzten Duell und damit zum großen, emotionalen Finale kommt.

Ausnahmsweise hat der deutsche Verleih einmal weise gehandelt und "The Jungle Book" auch im Titel vom 60er Jahre "Dschungelbuch" unterschieden. Der ältere Film war eine klassische Disney-Komödie mit viel Musik für Kinder, der neue Titel ist, trotz seiner FSK-Einstufung, eher ein Film für Menschen, die so alt sind wie sein Hauptdarsteller, also um die zwölf Jahre. Doch auch für Silberrücken ist er mehr als nur sehenswert, allein schon die phantastisch gerenderten Tiere sind einen Besuch wert.

"The Jungle Book" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Geschrieben am Sonntag 17 April 2016 um 22:18 von Roland Freist

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