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Filmkritik: "Gravity"

Upside down you’re turning me

Wir sind es gewohnt, den Himmel, Sonne, Mond und Sterne über uns zu verorten. Sie sind oben, während wir selbst unten auf der Erde stehen. Selbst wenn wir einen Kopfstand machen, ist der Himmel immer noch über uns. Wir stehen auf der Erde, sie ist unter uns. Doch sobald man die Erde verlässt, also richtig verlässt und mehrere Hundert Kilometer aufsteigt, löst sich diese Ordnung irgendwann auf. Es wäre einmal eine interessante Aufgabe für Anthropologen herauszufinden, in welcher Höhe das geschieht. Abhängig vom Blickwinkel und der eigenen Lage im Raum kann die Erde vom Weltall aus gesehen auch einmal über uns schweben. Eine Definition für oben und unten gibt es nicht mehr, diese Begriffe ergeben keinen Sinn mehr.

Das ging mir wenige Minuten nach dem Beginn von "Gravity" durch den Kopf. Gravity heißt auf Deutsch Schwerkraft oder Anziehungskraft. Eigentlich ist dieser Titel falsch, denn es ist genau diese Kraft, die nahezu während des gesamten Films fehlt, wodurch überhaupt erst seine atemberaubenden Bilder möglich werden. Die Kräfte, die hier wirken, sind ganz andere.

Ein Space Shuttle hat einige Astronauten in die Nähe der internationalen Raumstation ISS gebracht, darunter die Wissenschaftlerin Ryan Stone (Sandra Bullock) und den NASA-Veteranen Matt Kowalski (George Clooney). Plötzlich kommt aus Houston der Befehl, die Mission sofort abzubrechen. Ein Trümmerfeld, Hunderte Teile Weltraumschrott, nähert sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als 33000 Kilometern pro Stunde. Es ist entstanden aus einer Kettenreaktion. An und für sich harmlose Schrottteile sind auf einen Satelliten geprallt, haben ihn zerstört, wodurch dessen Überreste wiederum weitere Satelliten zerschossen haben. Die Flugbahnen der Metallfetzen lassen sich nicht mehr vorhersehen. Bis zum Eintreffen der Teilewolke bleiben nur noch wenige Sekunden.

Es folgen einige der spektakulärsten Szenen des Films. Ryan wird durchs All geschleudert, ist völlig hilflos den Flieh- und Trägheitskräften ausgesetzt. Die Kamera zeigt sie kopfüber, kopfunter, sie wird von den Trümmern des Shuttle, an denen sie noch hängt, mit unglaublicher Wucht um alle drei Achsen gedreht. Die Bewegungen erinnern an eine der modernen Magenschleudern auf dem Oktoberfest. Nur mit Mühe gelingt es Kowalski, sie zu retten – er ist mit einem Jetpack ausgestattet, mit dem er unabhängig navigieren kann. Als es vorbei ist, sind nur noch sie beide übrig, die anderen Crewmitglieder sind tot. Das Space Shuttle wurde von den Trümmern durchlöchert, die ISS ist ebenfalls stark beschädigt. Die dortige Besatzung hat sich mit einer Sojus-Kapsel in Sicherheit gebracht, die zweite Kapsel kann die Erde nicht mehr erreichen. Und da die Fernmeldesatelliten ebenfalls getroffen wurden, ist auch die Verbindung mit Houston abgebrochen. Ryan und Kowalski sind auf sich allein gestellt.

Einen großen Teil seiner Wirkung verdankt "Gravity" der Kamera von Emmanuel Lubezki, dem Standard-Kameramann von Regisseur Alfonso Cuarón ("Children of Men") und, seit "The New World", auch von Terrence Malick. Er zeigt in langen Sequenzen die wilden Bewegungen, die sich durch die Abwesenheit der Schwerkraft ergeben. Lubezki findet immer neue, originelle Perspektiven und scheut sich auch nicht, mal eben hinter Sandra Bullocks Visier zu schlüpfen und das Chaos um sie herum aus ihrem Blickwinkel zu betrachten. Genau wie sie verliert auch der Zuschauer mehrfach den Halt und die Orientierung. Die Wirkung entspricht der einer Achterbahn, die vorübergehend in den freien Fall übergeht – an einigen Stellen wird’s im Magen flau. Doch die spannende Story und der Überlebenswille der Hauptpersonen pressen einen immer wieder in den Sitz zurück. Um den räumlichen Eindruck noch zu verstärken, wurde der Film in 3D gedreht. Doch der Effekt ist minimal, in 2D funktioniert er genauso gut. Und apropos Story: Einige Details sind unglaubwürdig oder physikalisch sogar falsch. (Bei einem Beschleunigungsmanöver fallen Gegenstände in einem Raumfahrzeug zu Boden und schweben nicht weiter durch die Luft). Doch angesichts der Qualität der gesamten 90 Minuten kann man das großzügig übersehen.

"Gravity" ist ein brillanter Abenteuerfilm. Cuarón zeigt, wie man aus einer einfachen Story mit gerade einmal zwei Darstellern etwas Besonderes macht. Letztlich ist das beste Hollywood-Tradition: Man bringt eine kleine Gruppe Menschen in eine Extremsituation, in einem Fort im Westen, auf einem Schiff oder in einem Raumfrachter, und spielt die Möglichkeiten durch, was alles passieren könnte. Eine alte, bewährte Erfolgsformel. "Gravity" zeigt, dass dieses Konzept auch auf der ISS aufgehen kann und für bildgewaltige Momente gut ist.

"Gravity" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Geschrieben am Donnerstag 03 Oktober 2013 um 21:30 von Roland Freist

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