« Filmkritik: "Molly's Game – Alles auf eine Karte" | Zurück zur Startseite dieses Blogs | Filmkritik: "Solo: A Star Wars Story" »

Filmkritik: "I, Tonya"

Tonya Harding schlägt zurück

Als 1994 am Vorabend der amerikanischen Meisterschaften ein bezahlter Schläger der Eiskunstläuferin Nancy Kerrigan mit einer Eisenstange die Kniescheibe zu zertrümmern versuchte, erregte das weltweit Aufsehen. Schnell fiel der Verdacht auf ihre Konkurrentin Tonya Harding, die von den Medien schnell als "Hexe" bezeichnet wurde. Zum Glück verfehlte der Attentäter die Kniescheibe, so dass Kerrigan lediglich eine Prellung davontrug. Sechs Wochen später konnte sie sogar an den Olympischen Spielen in Lillehammer teilnehmen, wo sie nach einer triumphalen Kür den zweiten Platz hinter der Russin Oksana Bajul erreichte. Harding hingegen wurde Achte und landete damit sogar noch einen Platz hinter Katarina Witt, die im Alter von 28 Jahren noch einmal angetreten war. Kurz darauf wurde sie als eine der Verantwortlichen für den Angriff auf Kerrigan zu einer hohen Geldstrafe, Sozialstunden und lebenslangem Startverbot verurteilt und schlug sich anschließend als Boxkämpferin durch. "I, Tonya" erzählt diese Geschichte aus Sicht von Tonya Harding.

Harding (Margot Robbie, "The Wolf of Wall Street") wächst in Verhältnissen auf, die man in Deutschland als "bildungsfern" bezeichnen würde. Ihre Mutter LaVona, großartig gespielt von Allison Janney, schickt sie bereits als Kind im Alter von drei Jahren aufs Eis. Sie selbst ist starke Raucherin, zynisch und hart gegenüber ihrer Tochter. Tonyas Vater (Jason Davis) jagt sie nach einigen Jahren davon, Mutter und Tochter leben anschließend zusammen in einem heruntergekommenen Haus in der Provinz. Die Umgebung färbt ab auf Tonya, kaum einer ihrer Sätze kommt ohne das Wort "Scheiße" aus, auch sie ist starke Raucherin. Doch sie ist gut, eine kräftige Sportlerin, und als sie älter wird, ist sie die erste Amerikanerin, die den dreifachen Axel springt. Zuvor hat sie ihren ersten Freund kennengelernt, Jeff (Sebastian Stan), der genau wie sie aus prekären Verhältnissen stammt, und sie heiratet ihn. Kurz darauf beginnt er sie zu schlagen. Jeff hat einen Freund, einen kleinen, untersetzten Typen namens Shawn (Paul Walter Hauser), ein Mann von zweifelhafter Intelligenz, der fortan Tonyas Bodyguard wird.

"I, Tonya" zeigt ein Milieu, welches das Zielpublikum dieses Films vermutlich nie kennengelernt hat. Es ist eine Welt voller Dummheit, Grausamkeit und Armut, in der Fluchen die normale Ausdrucksweise ist, in der die meisten Menschen eine Waffe besitzen und nicht nur Kinder regelmäßig geschlagen werden. Tonya sagt an einer Stelle des Films sinngemäß, alle Welt rege sich über den einen Schlag auf, den Nancy Kerrigan abbekommen habe, dabei sei sie selbst jeden einzelnen Tag ihres Lebens verprügelt worden. Überhaupt wendet sie sich des Öfteren an das Publikum, was Regisseur Craig Gillespie lustige Effekte erlaubt: Einmal artet ein Streit zwischen Tonya und ihrem Ehemann so aus, dass sie eine Schrotflinte herauszieht und auf ihn schießt. "Das hab ich nie gemacht", erklärt sie dann mit Blick in den Zuschauerraum und spielt damit offensichtlich auf die Berichterstattung der Medien an. Der Film ist über weite Strecken eine schwarze Komödie. Man amüsiert sich über das bizarre Verhalten seiner Hauptpersonen, wobei allerdings Harding immer außen vor bleibt. Für sie wird eher um Verständnis geworben, was dem Film in den USA den Vorwurf des Whitewashing einbrachte.

Zeitweise war sie tatsächlich die beste Eiskunstläuferin der USA, und Margot Robbie zeigt, wie wichtig diese Bestätigung ihrer Leistung und ihrer Person für Harding ist. Sie hat sich aus der Gosse nach oben gekämpft und ist stolz darauf. Doch ihren Bewegungen fehlt das Anmutige, das die Kunst ihrer behütet aufgewachsenen Konkurrentinnen auszeichnet. Sie ist kräftiger und auch technisch besser, dennoch landet sie in der Platzierung oft hinter ihnen. Einer der Preisrichter spricht es schließlich ganz direkt aus und erklärt Tonya, er wolle nicht, dass Personen wie sie die USA repräsentieren.

Es gibt in "I, Tonya" einige sehr schöne CGI-Aufnahmen von einzelnen Sprüngen, die meisten natürlich von ihrem dreifachen Axel. Es gibt tolle Darstellerleistungen von Margot Robbie und Allison Janney ("Juno", "Mom"), die letztere hat völlig zurecht einen Oscar als beste Nebendarstellerin erhalten. Es gibt einige wirklich lustige Szenen und viel schwarzen Humor. Doch das Beste an diesem Film ist die Geschichte, die er erzählt, von einem Mädchen, das sich nach oben kämpft und letztlich daran scheitert, dass sie die Verhältnisse, aus denen sie kommt, nicht hinter sich lassen kann.

"I, Tonya" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Geschrieben am Dienstag 03 April 2018 um 20:24 von Roland Freist

*
blog comments powered by Disqus

« Filmkritik: "Molly's Game – Alles auf eine Karte" | Zurück nach oben | Filmkritik: "Solo: A Star Wars Story" »

Impressum/Kontakt