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Filmkritik: "The Walk"

Hoch hinauf

Es ist selten, dass ein Film bei den Zuschauern physische Reaktionen hervorruft. Doch auf dem Höhepunkt von "The Walk" begannen die beiden älteren Damen rechts neben mir, unruhig in ihren Sesseln herumzurutschen und nervös miteinander zu tuscheln, während der Vater der Familie auf der linken Seite sich immer wieder zu Frau und Tochter drehte und den Blick auf die Leinwand ansonsten nur noch durch die Finger der rechten Hand wagte.

"The Walk" ist ein Horrorfilm für Menschen mit Höhenangst. 1974 spannte der Hochseilartist Philippe Petit gemeinsam mit einigen französischen Hippies ein Drahtseil zwischen den beiden Türmen des New Yorker World Trade Center und spazierte eine dreiviertel Stunde ungesichert und ohne Netz hin und her, wobei er sich zwischendurch sogar hinkniete und auf das Seil legte. Die ganze Aktion wurde 2008 in dem feinen Dokumentarfilm "Man on Wire" gezeigt, der damals sogar den Oscar bekam. Robert Zemeckis ("Zurück in die Zukunft") hat daraus nun einen Spielfilm gemacht, bei dem eines der wesentlichen Elemente die Bilder von der schwindelerregenden Höhe sind, in der sich die Protagonisten bewegen.

Durch den Film führt Philippe Petit (Joseph Gordon-Levitt, "Looper"), der dabei auf der Aufsichtsplattform auf der Fackel der Freiheitsstatue steht, in Rückblenden die Vorgeschichte erzählt und leider auch ein wenig nervt. Lang, sehr lang geht er auf seine Jugend ein, wie er zum Zirkus kam, das Balancieren auf dem Seil für sich entdeckte und von dem berühmten Artisten Papa Rudy (Ben Kingsley) ausgebildet wurde. Er etabliert sich als Hochseilartist, als er über ein Seil zwischen den beiden Türmen von Notre Dame läuft. Kurz darauf entdeckt er in einer Zeitung ein Bild der Twin Towers und beschließt, die Notre-Dame-Aktion auf einem höheren Level zu wiederholen. Er schart eine Gruppe von Unterstützern um sich, die er im Slang der terrorerfüllten 70er Jahre Sympathisanten nennt, und zieht mit ihnen nach New York. In wochenlanger Arbeit kundschaften die vier Männer sowie Petits Freundin Annie (Charlotte Le Bon) das World Trade Center aus, dessen oberste Stockwerke gerade fertiggestellt werden, und machen einen Plan, wie sie das Drahtseil auf das Dach des Gebäudes bekommen, aufspannen und gegen Schwingungen schützen können. Am 6. August 1974, kurz nach Sonnenaufgang, ist es dann soweit, und Petit setzt den ersten Fuß aufs Seil.

Zemeckis hat "The Walk" größtenteils im Studio gedreht, die Bilder des World Trade Center, der Blick vom Seil hinunter auf die Straße und die Panorama-Ansichten von New York wurden am Computer erzeugt und per Green-Screen-Technik eingefügt. Das Ergebnis ist perfekt und von realen Ansichten nicht zu unterscheiden. Selbst die 3D-Effekte funktionieren. Zemeckis setzt sie behutsam ein und verwendet sie in erster Linie, um den Realismus der Bilder zu unterstreichen. Es erweist sich wieder einmal, dass es einen guten Regisseur braucht, damit ein 3D-Film Sinn ergibt. Der letzte Akt des Films zeigt dann die nächtlichen Vorbereitungen, all die Pannen, die in letzter Minute noch geschehen, die Angst vor den Wachleuten, vor denen sich die Akteure verstecken müssen, endlich dann das Festzurren des Seils, ungesichert, an der Außenseite des Gebäudes – dieser Part ist spektakulär und voll mit einer Spannung, die der erste Teil leider vermissen lässt.

"The Walk" ist nebenbei auch ein nostalgischer Rückblick auf die 70er Jahre. Man sehnt sich zurück nach der Unschuld dieser Jahre, nach einer Zeit ohne Zukunftsängste. Petit und seine Freunde hatten keinen Sponsor, nur wenig Geld, alle lebten in einem kleinen Zimmer in New York zusammen. Die meisten von ihnen wussten nicht, wie es nach der Aktion mit ihnen weitergehen würde. Heute würde ein solcher Drahtseilakt vermutlich von Red Bull gesponsert und einen Tag lang mit viel Werbung im Fernsehen übertragen ("Red Bull verleiht Flüüügel"). Der Sensationswert wäre sicherlich höher und die Teilnehmer könnten sogar Geld verdienen. Doch für die ganze Poesie, die von dem Bild des Seiltänzers zwischen den Bürotürmen ausgeht, wäre das tödlich.

Der Film lohnt sich wegen der grandiosen Bilder von den Dächern des World Trade Centers, vom Anbringen der Seile in schwindelerregender Höhe und vom Spaziergang zwischen den beiden Türmen. Es wäre ein besserer Film geworden, hätte man die ersten beiden Drittel etwas zusammengekürzt.

"The Walk" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Geschrieben am Dienstag 27 Oktober 2015 um 17:18 von Roland Freist

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