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Archiv vom Februar 2017

Filmkritik: "Elle"

Geschrieben am Sonntag 19 Februar 2017 um 22:12 von Roland Freist

Basic Instinct

"Elle" ist über weite Strecken ein mäßig interessanter Film über das Leben einer reichen Frau um die 50: Michèle Leblanc (Isabelle Huppert) leitet einen Verlag, der sich auf die Produktion von Videospielen spezialisiert hat. Sie lebt allein in einer schönen, alten Villa in Paris, fährt ein schickes Auto. Ihren Ex-Mann (Charles Berling) hat sie verlassen, doch er ist nach wie vor einer ihrer engsten Vertrauten. Ihr gemeinsamer Sohn (Jonas Bloquet) jobbt in einem Fast-Food-Lokal und hat eine hochschwangere Freundin, finanziell ist er nach wie vor von seiner Mutter abhängig.

Der Film zeigt Michèle wie sie zur Arbeit geht, sich mit den Grafikern und Programmierern herumärgert, wie sie sich mit Freunden trifft. Sie hat eine Affäre mit dem Mann (Christian Berkel) ihrer besten Freundin und Kollegin (Anne Conigny), außerdem ist sie scharf auf den Nachbarn (Laurent Lafitte), der mit seiner Frau im Haus gegenüber wohnt, und sie versucht, ihn zu verführen. Und sie ist eifersüchtig auf ihren Ex, der eine Beziehung mit einer seiner Doktorandinnen begonnen hat. Sie zeigt wenig Gefühle im Verhältnis zu anderen, das gilt auch für ihre ehemaligen und aktuellen Liebhaber und ihre Familie. Stattdessen ist sie sarkastisch, zynisch, ironisch und dabei oft sehr witzig. Nur bei ihren Eltern ist sie anders: Ihre Mutter peppt sich mit Schönheitsoperationen auf und leistet sich einen Callboy als Liebhaber, was Michèle grotesk und peinlich findet. Ihr Vater dagegen sitzt im Gefängnis, sie hasst ihn und hat ihn seit 40 Jahren nicht mehr gesehen.

Das alles ist nicht sonderlich interessant, aber zumindest gut erzählt und unterhaltsam. "Elle" wäre eine harmlose, amüsante Liebeskomödie, wenn Michèle nicht gleich in der ersten Szene brutal vergewaltigt würde. Der Mann trägt eine Skimaske, sie erkennt ihn nicht. Äußerlich bleibt sie ruhig, nimmt ein Bad, bestellt sich beim Lieferservice etwas zu essen, geht am nächsten Tag wieder zur Arbeit. Sie ruft weder die Polizei noch sagt sie ihren Freunden, was geschehen ist. Doch als der Täter sie verfolgt, ihr obszöne Nachrichten schickt und in ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung einbricht, sorgt sie vor, kauft sich Pfefferspray und ein Beil, außerdem lässt sie die Schlösser auswechseln.

Mehrere Männer kommen als Täter infrage, unzufriedene Mitarbeiter, ihr Geliebter oder auch ihr Sohn, dem sie Vorhaltungen wegen seiner Freundin macht. Sie versucht einige Male, dem Täter auf die Spur zu kommen, hat jedoch keinen Erfolg. Doch dann steht der Vergewaltiger plötzlich wieder in ihrer Wohnung, und dieses Mal kann sie ihm die Maske abreißen.

Regisseur Paul Verhoeven hat in seinen Filmen schon immer gern mit Identitäten gespielt. Wer oder was war "Robocop", der Polizist Alex J. Murphy oder eine Maschine? Und war Arnold Schwarzenegger in "Total Recall" nun ursprünglich gut oder böse? Auch "Elle" lässt einen zum Schluss ratlos zurück. Denn im dritten Akt nimmt der Film eine Wendung, die einen nicht nur an Michèle, sondern zeitweise auch an der gesamten Geschichte zweifeln lässt. Man erkennt, dass das Drehbuch von Anfang an sehr sorgfältig eine zweite mögliche Version oder auch Interpretation des Geschehens vorbereitet hat. Die Fakten lassen plötzlich auch eine andere Deutung zu. Und aus der harmlosen Liebeskomödie wird ein Psychothriller.

Möglich machen das aber nicht nur das Drehbuch und die Regiekunst von Verhoeven, sondern auch Isabelle Huppert. Man sieht und spürt, dass etwas in ihr vorgeht, doch man erkennt nicht, was es ist. Ist ihre Michèle tatsächlich so abgeklärt, wie sie nach außen hin tut? Empfindet sie Angst oder Wut, Scham oder Ekel? Sie verbirgt es vor dem Zuschauer genauso wie vor ihren Mitmenschen. Ohne die Charakterzeichnung von Huppert wäre der Film nur halb so gut. Völlig zu recht wurde sie für einen Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert.

"Elle" ist ein krasser und teilweise schockierender Film, direkt und überraschend und zum Schluss auch sehr blutig. Verhoeven findet hier zu seiner alten Form zurück, die er bei Titeln wie "Showgirls" und "Hollow Man" bereits endgültig verloren zu haben schien.

"Elle" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

Filmkritik: "Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen"

Geschrieben am Montag 06 Februar 2017 um 21:42 von Roland Freist

Formeln des Erfolgs

In den 60er Jahren gelang es den USA in einer unglaublichen Kraftanstrengung, drei Menschen auf den Mond und wieder zurück zu bringen. Herausgefordert durch das Raumfahrtprogramm der UdSSR, das den ersten Satelliten in eine Erdumlaufbahn und wenig später den ersten Kosmonauten erfolgreich ins All brachte, setzte das Land über Jahre hinweg vier Prozent seines Bruttosozialprodukts ein, um diesen Vorsprung aufzuholen. Dieser Wettbewerb, der die besten Köpfe der Ingenieurwissenschaften, Mathematik und Physik erforderte, konnte keine Rücksicht mehr auf die alten Gebote der Rassentrennung nehmen. Sie waren kontraproduktiv und wurden handstreichartig beseitigt. Das zumindest ist die Geschichte, die "Hidden Figures" erzählt. Es ist eine gute Geschichte, auch wenn sie sich so vermutlich nicht abgespielt hat.

Der Film begleitet drei Freundinnen, die alle in der Rechenabteilung der Nasa arbeiten. Katherine G. Johnson (Taraji P. Hanson), Dorothy Vaughan (Octavia Spencer) und Mary Jackson (Janelle Monáe) berechnen in einem großen Team Flugbahnen, Luftwiderstand, Eintrittswinkel, Materialien etc. per Hand, denn Computer gibt es bei der Nasa zu dieser Zeit noch nicht. Dafür gibt es Rassen- und Geschlechtertrennung: Alle Frauen in diesem Team sind schwarz.

Vaughn ist die Teamleiterin und organisiert die Arbeit. Bezahlt wird sie jedoch wie eine einfache Rechenkraft, da Schwarze keine Führungspositionen einnehmen können.

Johnson ist die beste Mathematikerin der drei. Auf Empfehlung einer Teamleiterin wird sie in die Space Task Group von Al Harrison (Kevin Costner) versetzt, die den Flug von John Glenn vorbereitet, dem ersten Amerikaner, der ins All geschossen werden soll. Dort erwartet sie ein Team von ausschließlich weißen Männern, an ihrer Spitze Paul Stafford (Jim Parsons, "The Big Bang Theory"), die auf die Verstärkung eher unerfreut reagieren. Eine Toilette für schwarze Frauen ist nicht vorhanden, die nächste ist eine Meile entfernt, was sie zu langen Pausen zwingt. Für ihren Kaffee stellen ihr die Männer eine eigene Kanne hin, gekennzeichnet mit "Colored".

Mary Jackson schließlich hat ein Händchen für die Probleme bei der Konstruktion der Atlas-Rakete, die Glenn ins Weltall tragen soll. Sie würde gerne Ingenieurwissenschaften studieren, doch die Universität lässt keine Schwarzen zu.

Der Film zeigt nun, wie jede der drei Frauen sich gegen die Widerstände durchsetzt, einfach weil sie genauso gut oder sogar besser ist als die weißen Männer, die sie als Schwarze nicht für voll nehmen und zudem auch die neue Konkurrenz fürchten. Am ausführlichsten wird dabei der Werdegang von Katherine G. Johnson geschildert, die Szenen, in denen sie mit ihren Flugbahnberechnungen nicht nur Harrison, sondern auch die Astronauten verblüfft, gehören zu den stärksten des Films. Ebenfalls sehr gut: Kevin Costner, der in einer Mischung aus Ärger und Wut über diesen Unsinn das Schild "Colored" über der Toilette abreißt und die Rassentrennung bei den Kaffeekannen aufhebt.

Leider arbeitet der Film aber auch mit etlichen Klischees, Szenen, Einstellungen, Handlungsentwicklungen, die man bereits etliche Male gesehen hat. Dazu zählt die kitschige Liebesgeschichte zwischen Katherine und einem schwarzen Offizier (Mahershala Ali) genauso wie leider auch etliche Szenen aus den Geschichten der drei Protagonistinnen. Es fehlt "Hidden Figures" an Überraschungsmomenten, Wendungen, die man so nicht erwartet hätte, an Rückschlägen und schicksalhaften Wendungen. Es geht für die drei Frauen die ganze Zeit immer nur bergauf, langsam zwar, und oftmals gegen starke Widerstände, aber bergauf. Doch so ist das Leben nicht. Der Effekt ist, dass man über weite Strecken den Eindruck hat, in einem Familienfilm, einem Gute-Laune-Film zu sitzen. Ja, das waren schlimme Zeiten damals, aber hey, ist doch alles schon viel besser geworden.

Der darstellerischen Leistung tut das zum Glück keinen Abbruch. Taraji P. Henson kennt man vor allem aus ihren Rollen in Fernsehserien wie "Boston Legal" oder "Person of Interest" und übersieht dabei, wie viel sie auch schon fürs Kino gearbeitet hat. Für "Der seltsame Fall des Benjamin Button" gab’s sogar eine Oscar-Nominierung. In "Hidden Figures" ist sie die unangefochtene Hauptfigur des Films, hochintelligent, von ihren Fähigkeiten als Mathematikerin überzeugt und doch in dieser rein weißen Gesellschaft immer wieder gehemmt, ihre Fähigkeiten auch zu demonstrieren. Henson spielt das sehr gut und erlaubt sich nur ganz selten mal kleine Momente der Unsicherheit. Noch etwas besser ist Octavia Spencer, die bereits einen Oscar hat (für "The Help"). Sie besitzt diese Ausstrahlung innerer Ruhe, auf die sie sich auch hier wieder verlassen kann, und wirkt immer so, als würde sie das Geschehen um sich herum nur still beobachten und sich ihre Gedanken dazu machen. Janelle Monáe schließlich ist eigentlich als Sängerin bekanntgeworden. Ihr Album "The ArchAndroid" mit der Single "Tightrope" war 2010 ein Aufsehen erregendes Debüt, doch nach dem zweiten Album "The Electric Lady" von 2013 wurde es still um sie. In diesem Jahr ist sie dafür gleich in zwei Filmen zu sehen, denn auch in "Moonlight", der in einigen Wochen in Deutschland startet, ist sie dabei. Und sie ist wirklich gut als schöne, selbstbewusste, etwas freche Wissenschaftlerin.

"Hidden Figures" hat eine originelle Grundidee, nämlich die Verknüpfung von trockener Mathematik mit der emotionalen Geschichte von drei schwarzen Frauen, die sich in einer weißen Männerwelt durchsetzen. Man lernt auch einiges, zum einen über die Ausformungen der Rassentrennung in den USA, zum anderen aber auch über die Probleme der Raumfahrt zu dieser Zeit. Doch insgesamt ist der Film zu vorhersehbar und letztlich auch zu oberflächlich, um als großer durchzugehen.

"Hidden Figures" in der IMDB

Der deutsche Trailer:

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